Ich sitze am selben Platz, am Tisch. Es ist noch dunkel. In ein paar Stunden ist es genau ein Jahr her.
14. Oktober 2021
Ein Gummiband zerreißt in meiner Brust. Eigenartig. Das Aneurysma, eine Aufweitung meiner Hauptschlagader auf mehr als das Doppelte, war zufällig im Frühjahr entdeckt worden. Ich wähle ruhig die 112. Ob die Adresse noch stimme und ob jemand die Tür öffnen könne. Ich gehe die Treppe hinauf und wecke meine schlafende Frau „Die Rettung kommt gleich, kannst Du die Tür aufmachen?“. Drei Minuten später steht die Notärztin mit einem Team im Wohnzimmer. Ein brennender Schmerz, schnell unerträglich stark. Atemnot und ein Druck wie Tonnen. Die Ärztin gibt Kommandos, der Koffer mit den tausend Ampullen ist geöffnet, es wird injiziert, gemessen, ein eingespielter Ablauf. Bei der dritten Spritze lässt meine Anspannung nach, Atmen. Maxi unser Kater hat mittendrin hat den Platz seiner Wahl gefunden: er liegt in den Armen eines Sanitäters (diese Uniform!!) und schnurrt.
Nach den Untersuchungen wird fieberhaft versucht, ein Krankenhaus zu finden. Innsbruck hat vor 10 Minuten einen Notfall reingekriegt, die sind zu. Nebel verhindert Flüge in den Rest von Österreich. Augsburg nimmt mich dann endlich. Angelika, zuhause, ohne zu wissen, was mit mir ist, sieht irgendwann den Hubschrauber fliegen. So oft haben wir den schon gesehen.
Ich versuche beim Flug aus dem Fenster zu sehen: da ist der Dürrnberg, da wollt ich heute rauf, mit den Hunden, herrliches Herbstwetter. Die Ärztin schaut mich kurz an, berührt mich am Arm, füllt dann das Formular weiter aus. Der Hubschrauber ist laut, alles vibriert, wie auf Schienen geht es nach Norden. Bei der Landung wieder routinierter Ablauf und Protokoll: Übergabe. Name, Daten, Verlauf . Das empfangende Team mit dem später operierenden Arzt auf der anderen Seite. Wie im Film.
Die Wand meiner Hauptschlagader, dreilagig, hat sich, beginnend beim Herzen, aufgespaltet, dadurch dünner kann jederzeit ein Riss auftreten. Sofort tödlich. Die Aufspaltung wird über den gesamten Arterienbogen bis hinunter in den Bauchraum zu den Verzweigungen zu den Organen, zuletzt zu den Nieren gehen. Die Operation dauert sieben Stunden, der Bogen kann ersetzt werden, auch die Herzklappe. Angelika erhält erst um 10 am Abend einen Anruf. Sie soll das Handy auf den Nachttisch legen. Wenn kein Anruf kommt, hab ich die Nacht überlebt.
Monate
In den ersten Stock zu kommen, 18 Stufen.
Am unerträglichsten: auch mein Geist und meine Seele sind so kraftlos.
Angelika ist allein in der Klockerei, mit mir, mit all unseren Wesen. Sie ist da, immer, in den schwersten Zeiten.
Unglaublich, was für ein Geschenk!
Erst in den letzten Monaten wird all das, was passiert ist, gegenwärtiger und realisierbarer. Eigentlich: leben zu dürfen.
Mit jedem Tag wird alles spürbarer und einordenbarer. Ich habe mein Leben ein zweites Mal geschenkt bekommen. Unglaublich.
Ich bin mir meiner Sterblichkeit bewusst. Täglicher. Jede Freude ist ein Fest. Jedes Lächeln, jedes gute Wort. Jeder Apfel, jedes Erdbeermarmeladebrot.
Leider bekommt man Fähigkeiten nicht gleich dazugeschenkt. Ich bin immer noch ich (eh auch eine gute Nachricht :-).
Das größte Geschenk: miteinander zu leben.
Was bleibt
Das Leben und das Lebendige.
Jede Sekunde in Liebe.
„Unser Leben kann nicht immer voller Freude sein, aber immer voller Liebe“ (Thomas von Aquin)